4. SYMPOSIUM DER ELISABETH-KÄSEMANN-STIFTUNG, BUENOS AIRES – 2019

Dienstag, 1. Oktober 2019

Panels und Plenum

In konzentrierter Arbeitsatmosphäre fanden am Vormittag die drei Panels des Symposiums an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires statt.

Panel I: Traditionelle Rechtsinstrumente

Prof. Dr. Mariano Borinsky – Bundesrichter an der Bundesstrafkammer, Professor an der Universität Buenos Aires, Präsident der Kommission für die Reform des Strafgesetzbuchs, Argentinien.

Borinksy, Mitglied in der „Kommission zur Reform des Strafrechts“, legte die Gründe dar, die zur derzeitigen Reform des in Argentinien geltenden Strafrechts führten. Er erläuterte Erweiterungen, welche nun auch Straftaten berücksichtigten, die in der internationalen Rechtsprechung verankert seien, wie Völkermord oder das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen. Es handle sich bei dieser Reform um den Versuch, die bisherige repressive Rechtsprechung in ein positives Recht zu verwandeln, das von der Gesellschaft akzeptiert werde. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass nicht nur internationale Rechtsgrundsätze aufgenommen wurden. Vielmehr seien auch Vertreter von Politik, staatlichen Institutionen und Zivilgesellschaft in Argentinien um Stellungnahmen gebeten worden, um zu gewährleisten, dass das neue Strafgesetzbuch „föderal und pluralistisch“ die argentinische Gesellschaft präsentiere.

Natalia Luterstein, LL.M. – Professorin für Völkerrecht und internationales Strafrecht, Universität Buenos Aires, Pflichtverteidigerin, Argentinien.

In ihrem Beitrag analysierte Luterstein die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch nationale argentinische Gerichte am Beispiel der Anwendung der UN-Konvention von 1968, welche die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorsieht. Eine wichtige Voraussetzung für die Anwendung des Völkerrechts als Teil der argentinischen Rechtsprechung war, dass die während der Diktatur 1976-1983 begangenen Taten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellten. Ein weiterer relevanter Faktor für die Anwendung der Nichtverjährungsklausel des Völkerrechts waren die Auslieferungsersuchen der europäischen Länder im Falle von NS-Verbrechern in den 1990er Jahren. So habe der nationale Oberste Gerichtshof in dem 2000er Jahrzehnt schließlich speziell das Völkerrecht angewandt, um alle Hindernisse für die Verfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur begangen wurden, zu beseitigen. Das argentinische Beispiel habe gezeigt, dass die konsequente Anwendung des nationalen und internationalen Rechts zu einer gegenseitigen Stärkung beider Rechtsordnungen führt.

Prof. Dr. Cornelius Nestler – Lehrstuhl Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität zu Köln, Anwalt von Holocaust-Überlebenden in Fällen nationalsozialistischer Verbrechen, Deutschland.

Sowohl Nestler als auch Jens Rommel setzten sich in ihren Beiträgen mit der Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit von unterschiedlichen Rängen und Funktionen in Zusammenhang mit der Ermordung der europäischen Juden auseinander.

Nestler zeigte die Entwicklung auf bezüglich der juristischen Bewertung niederrangiger am Holocaust Beteiligter. Bis Mitte der 1960er Jahre galt die Auffassung, dass am Holocaust Beteiligte einer natürlichen Handlungseinheit angehörten und dafür verurteilt wurden. Ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wurde diese Rechtsprechung nicht mehr angewandt. Seit dieser Zeit musste die individuelle Tat, der genau feststellbare Akt des Tötens, nachgewiesen werden, um eine Verurteilung zu erreichen. In der Konsequenz wurden praktisch ab den 1970er Jahren keine niederrangigen SS-Angehörige mehr strafverfolgt. Darüber hinaus wurde die strafrechtliche Verantwortlichkeit je nach Position und Funktion beurteilt. Beispielsweise wurde unterschieden zwischen einer Tätigkeit an der Rampe von Auschwitz oder dem Dienst in einer Fahrerdivision. Über Jahrzehnte hinweg konnten sich zudem Beschuldigte mit der Berufung auf Befehlsnotstand oder unausgesprochenem Widerstand gegen das NS-Regime der Strafverfolgung entziehen. Eine Wiederaufnahme der Rechtsprechung vor 1965 fand erst mit dem Verfahren gegen Oscar Gröning im Jahr 2014 statt.

Jens Rommel – Leitender Oberstaatsanwalt, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg, Deutschland.

Rommel beschrieb die Hindernisse, die eine Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen über Jahrzehnte hinweg erschwerten. Dazu gehörten das Fehlen einer rechtlichen Basis, die Mauer des Schweigens unter den Tätern, die nahezu unmögliche Aufgabe, unmittelbare Täter zu identifizieren, da Opfer und Täter oft unterschiedliche Nationalitäten besaßen oder da die Tat in einem ausländischen Umfeld verübt wurde sowie die beschränkten Möglichkeiten, Tatorte, die im Einflussbereich und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lagen in der Zeit des Kalten Krieges zu besichtigen. Er wies auf die Bedeutung der “Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ hin als einer unabhängigen Ermittlungsbehörde, die ausschließlich für NS-Verbrechen zuständig ist. Bedauerlicherweise umfassten deren Kompetenzen nicht die Anwendung und Umsetzung von Rechtsmaßnahmen, wie beispielsweise Hausdurchsuchungen. Ihre Existenzberechtigung und Sinnhaftigkeit sei jedoch ohne Zweifel. Im Falle von 170.000 nationalsozialistischer Beschuldigter hat die „Zentrale Stelle“ Ermittlungen durchgeführt. Ihre Arbeit ermögliche es, dass am 17. Oktober in Hamburg wieder ein Verfahren gegen einen 92-jährigen Wachmann des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Stutthof eröffnet werden könne.

Prof. Dr. Daniel Rafecas – Bundesrichter, Professor für Strafrecht an der Universität Buenos Aires, Argentinien.

Rafecas kommt in seiner Analyse zur „Unvereinbarkeit der rechtlichen Definition von Völkermord mit dem argentinischen Fall“ zu dem Ergebnis, dass die Rechtsfigur Völkermord, wie sie von den Vereinten Nationen verstanden wird, nicht auf den argentinischen Fall angewendet werden könne. Zu eindeutig sei, dass es sich bei den Opfern der argentinischen Diktatur weder um eine nationale, ethnische, rassische noch um eine religiöse Gruppe gehandelt habe. Das erste Ziel der Militärdiktatur sei die Vernichtung der politischen Opposition gewesen, eine Opfergruppe, die in ihrer Zusammensetzung letztendlich heterogen und volatil gewesen sei. Damit entsprächen die argentinischen Verbrechen und ihre Opfer nicht der Definition von „Völkermord“ wie sie die Vereinten Nationen vertreten würde. Der Ausschluss von politischen Gruppen als Opfer eines Völkermords in den Konventionen der internationalen Gemeinschaft sei bedauerlich, denn im Falle der Anerkennung von so genannten „Politiziden“ müsste die Mehrheit der schweren internationalen Gruppenkonflikte als Völkermord bezeichnet werden. Da es jedoch keine rechtliche Grundlage hierzu gäbe, sollte von der Überlegung – sei sie noch so nachvollziehbar – Abstand genommen werden, den Begriff aufgrund von Anliegen der öffentlichen Darstellung und schwachen normativen Argumenten in die Rechtsprechung argentinischer Gerichte aufzunehmen.

Prof. Dr. Valeria Thus – Professorin an der Universität Buenos Aires, Koordinatorin des Programms „Memoria y Justicia“, Argentinien.

Thus bilanzierte in ihrem Vortrag „Prozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien: Beiträge von Strafverfahren zur Konstruktion von Erinnerung und Wahrheit“ zunächst den bedeutenden Beitrag, den die argentinischen Menschenrechtsorganisationen im Bereich der juristischen Aufarbeitung geleistet haben und noch leisten. Sie umriss die Ziele bei der rechtsstaatlichen Strafverfolgung von staatlichen Verbrechen. Ihrer Auffassung nach müssten diese Verbrechen Strafe nach sich ziehen. Häufig würde in diesem Kontext der Vorwurf laut, dies sei ein Modell mit rückwirkender Rechtsprechung, die Strafe als Vergeltung verstehe. Menschenrechtsorganisationen würden jedoch die Modelle der Übergangsjustiz ablehnen. Sie befürchteten, dass die mit ihr verbundenen Forderungen nach Vergebung und Versöhnung ein Vergessen der Geschehnisse nach sich ziehen würden. Darüber hinaus könne nur demjenigen vergeben werden, der Reue zeige. Die Täter bereuten aber nicht. Im Gegenteil, ihr Schweigen und ihre Weigerung zur Aufklärung der Verbrechen und der Fälle der Verschwundenen beizutragen, dokumentiere dass es kein Bedauern auf Seiten der Täter gäbe. Als bedenklich empfänden die Menschenrechtsorganisationen zudem, dass die Forderung nach Vergebung und Versöhnung ausgerechnet von den gesellschaftlichen Gruppen in Argentinien erhoben würden, die an der Diktatur beteiligt waren. Thus vertritt die Meinung, die traditionelle Strafverfolgung und die aktive Rolle des Staates bei der Aufklärung der Verbrechen in Argentinien seien vonnöten, um demokratische Strukturen zu stärken. Sie hätten zudem wichtige Erkenntnisse zu den Ergebnissen der Wahrheitskommission aus den 1980er Jahren hinzugefügt, auf deren Grundlage eine umfassende Beurteilung der Verbrechen der Diktatur erst möglich sei. Die laufenden Prozesse hätten die Bestrafung der Verantwortlichen für die Verbrechen ermöglicht, sie sind aber auch ein Beitrag zur Herstellung von Wahrheit. Die juristische Logik, die fordert, zu beweisen, wer was getan hat, und die Beschaffung der Beweise trugen zum Wahrheitsprozess bei. Aber auch umgekehrt: Die in der Wahrheitskommission von 1985 gesammelten Informationen integrieren sich in das Beweisgeflecht der aktuellen Prozesse. Übergangsjustiz fordere entweder Gerechtigkeit oder Wahrheit und Erinnerung. Es zeige sich aber am Beispiel Argentiniens, dass sich beide Modelle nicht dichotomisch gegenüberstehen müssten.

Im Hintergrund sind die Porträts der Studierenden der Rechtswissenschaftlichen Fakultät abgebildet, die Opfer der argentinischen Militärdiktatur wurden.

Panel II: Kronzeugenregelung

Prof. Dr. Jörg Eisele – Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Computerstrafrecht, Universität Tübingen, Deutschland.

Eisele konzentrierte sich mit der Frage „Kronzeugenregelung – Ein Modell zur Aufarbeitung von Vergangenheit?“ darauf, ob Kronzeugenregelungen geeignet seien, schwere Menschenrechtsverletzungen von autoritären Regimen und Bürgerkriegen aufzuarbeiten. Der Gesetzgeber sehe Kronzeugenregelungen zur Aufdeckung konspirativer Verbrechenshintergründe vor. Daher seien Kronzeugenregelungen nicht nur im Falle von Terrorismus und Organisierter Kriminalität ein geeignetes Mittel, sondern auch bei staatlich organisierten Verbrechen, die von Polizei-, Militär-, oder Paramilitäreinheiten ausgeführt würden. Sie wiesen eine vergleichbare hierarchische Struktur mit Korpsgeist auf, die von den Ermittlungsbehörden aufgebrochen werden müsse. Schließlich ziele eine Zeugenaussage nicht nur darauf ab, Täter zu ermitteln, sondern auch darauf, faktische Gerechtigkeit herzustellen. Eisele kommt zu dem Schluss, dass bei der Abwägung von Risiken und Vorteilen und unter Beachtung und Einbeziehung rechtsstaatlicher Regelungen eine Strafminderung im Tausch gegen Informationen, einen wichtigen Beitrag zur Aufdeckung von bereits begangenen Taten leisten könne. Die Normierung einer Kronzeugenregelung zur Bewältigung staatlicher Verbrechen sei damit grundsätzlich positiv zu bewerten.

Prof. Dr. Natalia Barbero – Professorin für Strafrecht, internationales Strafrecht und Menschenrechte, Universität Buenos Aires, Rechtsanwältin, Argentinien.

Barbero nahm in ihrem Beitrag die Perspektive der Opfer bezüglich Amnestien in den Fokus, insbesondere im Zusammenhang mit den argentinischen Erfahrungen. Nach Ende der Diktatur verurteilten Gerichte die Hauptverantwortlichen zunächst kompromisslos, wenig später aber wurden einige der Täter begnadigt und andere profitierten von Amnestiegesetzen. Politiker hätten diese Maßnahmen als notwendige rechtsstaatliche Mittel zur Erhaltung des Friedens begründet. Die argentinische Gesellschaft lehnte die „Gesetze der Straflosigkeit“ jedoch ab, da sie ihrer Ansicht nach gegen internationales Recht und die Rechte der Opfer verstießen. Barbero fragte kritisch, ob die Abwesenheit und Reduzierung von Strafe – insbesondere im Kontext alternativer Versöhnungs- und Befriedungsmaßnahmen von Übergangsjustiz – nicht die Rechte der Opfer einschränkten. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, aber auch die Gesellschaft hätten nicht nur das Recht auf Wahrheit, sondern auch das Recht auf Gerechtigkeit und auf Wiedergutmachung, welche Straflosigkeit und andere Vergünstigungen ausschließen würden. Nach Ansicht des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind Amnestie, Verjährung und andere Haftbefreiungen für schwere Menschenrechtsverletzungen unzulässig. Im Falle Argentiniens wurde nach Wiederaufnahme der Verfahren, nachdem die Amnestiegesetze für ungültig erklärt worden waren, keine Nachsicht gewährt. Heute könnte auf Grundlage der völkerrechtlichen Bestimmungen und insbesondere seit Inkrafttreten des Römischen Statuts Strafminderung, niemals aber Straffreiheit angeboten werden.

Prof. Dr. Bernd Heinrich – Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Urheberrecht, Universität Tübingen, Deutschland.

Heinrich wies zu Anfang seines Beitrags „Historische Entwicklung der Kronzeugenregelungen in Deutschland“ darauf hin, dass Kronzeugenprogramme im Gegensatz zu England und Amerika in Deutschland keine Tradition hätten. Ersichtlich würde dies schon am deutschen Begriff „Kronzeugenregelung“ im Vergleich zur angloamerikanischen Bezeichnung „Leniency Programs“. Erstmals sei die Einführung einer Kronzeugenregelung im Zusammenhang mit dem Terrorismus der „Roten Armee Fraktion“ in Deutschland in den 1970er Jahren diskutiert, dann aber verworfen worden. Eingang in die Rechtspraxis fand die Regelung erst im Rahmen des 1982 in Kraft getretenen Betäubungsmittelgesetzes. 1989 wurde dann vom Bundestag mit dem so genannten „Artikelgesetz“ eine Kronzeugenregelung im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten als allgemeines Instrument der Justiz verabschiedet. Legislative und Vertreter der Praxis neigten dazu, die Regelung zu befürworten. Von wissenschaftlicher Seite würden Kronzeugenregelungen jedoch bis heute kritisch gesehen, da sie sich zum Teil im Widerspruch mit anderen Rechtsgrundsätzen befänden und zudem die Gefahr des Missbrauchs bestünde. Problematisch sei darüber hinaus, dass innerhalb ideologischer Gruppen stets eine potenzielle Gefährdung des Kronzeugen bestünde und auch ein Erfolg der Kronzeugenregelung bisher nicht positiv nachweisbar war.

Fabián Martínez, LL.M. – Senior Legal Officer am Sondergerichtshof für Frieden, Dozent für Strafrecht an der Universidad Santo Tomás in Bogotá, Kolumbien.

Martínez sprach über die verbreitete Anwendung von Strafnachlässen in einem oft unscharfen Kontext im kolumbianischen Rechtssystem. Kronzeugenregelung hätte in Kolumbien eine 40-jährige Tradition. Sie wurde eingeführt, um der Organisierten Kriminalität und politisch motivierten Gewalttaten begegnen zu können. Voraussetzung für ihre Anwendung sei, dass die Aussage des Zeugen dazu beitrage, Informationen über kriminelle Organisationen, Anführer und deren Vermögen zu sammeln. Die Interessen der Opfer stünden dabei nicht im Zentrum des Ermittlungsinteresses. Aus der stärkeren Anlehnung an das akkusatorische Strafverfahren resultiere, dass Kronzeugenregelungen verbreitet als allgemeines Rechtsmittel eingesetzt würden, um Verfahren zu verkürzen oder auszusetzen, da sonst eine Überlastung der Gerichte drohe. Mit der aktuellen Ausweitung des Kronzeugeninstrumentariums war verbunden, dass bestimmten Rechtswegen die Möglichkeit eine Kronzeugenaussage mit Haftminderung zu entgelten, verschlossen blieb. Eine Schwäche der kolumbianischen Praxis bezüglich Kronzeugenregelungen sieht Martínez im Fehlen eines kohärenten Konzepts in Bezug auf die Anwendung in der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit Kolumbiens.

Dr. Alejandro Ramelli Arteaga – Richter am Sondergerichtshof für Frieden, Kolumbien.

Die Rechte der Opfer standen auch in Ramellis Beitrag „Bedingte Kronzeugenregelung am Sondergerichtshof für Frieden in Kolumbien“ im Mittelpunkt. Er berichtete über seine Arbeit am Sondergerichtshof, der nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Guerillaorganisation „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“ (FARC) und der nationalen Regierung gegründet wurde. Ziel des Gerichtshofes ist, die am Konflikt Beteiligten mit der Vergangenheit zu versöhnen. Kolumbien habe eine innovative Form der gemischten Übergangsjustiz geschaffen, die aus gerichtlichen (Sondergerichtsbarkeit für den Frieden) und außergerichtlichen (Wahrheitskommission und Einheit für die Suche nach vermissten Personen) Instrumenten bestehe. Im Rahmen eines „Integrierten Systems von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Wiederholungsvermeidung“ würden sowohl Maßnahmen zur Regeneration als auch bedingte Amnestien erlassen. Diese würden nur vergeben, wenn die umfassende Wahrheit über die begangenen Verbrechen, die Bitte um Vergebung und eine Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer vorläge. Da für internationale Verbrechen keine Amnestien gewährt würden, verstieße das Übergangssystem nicht gegen internationale Menschenrechtsstandards. Übernimmt der Täter keine Verantwortung, würde er zudem einem Akkusationsverfahren unterzogen und im Falle einer Schuldzuweisung mit bis zu zwanzig Jahren Haft bestraft.

Panel III: Wahrheitskommissionen und Versöhnung

Santiago Alejandro Canton – Leiter des Sekretariats für Menschenrechte der Provinz Buenos Aires, Argentinien.

Seinem Beitrag über das argentinische Modell der Übergangsjustiz schickte Canton voran, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit der Zukunft diene. Argentinien ahnde gegenwärtig die von der letzten Militärdiktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in kompromissloser Strafverfolgung. Jahrzehnte zuvor habe eine Wahrheitskommission zu einer anfänglichen Aufklärung der Verbrechen geführt. Die Hauptverantwortlichen seien damals verurteilt worden. Bedauerlicherweise wurde das Erreichte rückgängig gemacht, indem der Staat die Strafverfolgung einstellte und eine Amnestie der bereits verurteilten Täter erließ. Argentinien sei damit weltweit das einzige Land, das seit Anfang der 1980er Jahre früh verschiedene Formen der Übergangsjustiz angewandt hätte. Darüber hinaus hätten argentinische Kläger und Organisationen zur Zeit der Amnestiegesetze eine Vorreiterrolle eingenommen, mit der Strategie, Prozesse gegen inländische Täter vom Ausland aus anzustrengen. Auch das von der internationalen Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten vielfach als Ergänzung zu den kodifizierten Menschenrechten zitierte „Recht auf Wahrheit“ sei eine Forderung, die erstmals zivilgesellschaftliche Organisationen in Argentinien gestellt hätten. Auf Grundlage der Erfahrung mit nationalen und internationalen Modellen und Verfahren zur Aufarbeitung der Vergangenheit, könne es nach Auffassung Cantons zur derzeitigen rechtstaatlichen Strafverfolgung in Argentinien keinen anderen gangbaren Weg geben. Als Leiter des staatlichen Menschenrechtsbüros der Provinz Buenos Aires hält er die Ernennung weiterer Richter für wünschenswert, um die Verfahren zu beschleunigen. Zudem forderte er die Auseinandersetzung über die Verantwortung von Unternehmen während der Zeit der Militärdiktatur.

Prof. Dr. Hartmut Hamann – Rechtsanwalt, Stuttgart, Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin, Deutschland.

Einen Überblick über seine Erfahrungen mit afrikanischen Wahrheitskommissionen gab Hamann. Wie sehr Wahrheitskommissionen bezüglich ihrer Erfolgsbilanz voneinander differieren verdeutlichte Hamann an den Beispielen Südafrika, Burundi und Gambia. Südafrikas Wahrheitskommission, die sich an der 1985 in Argentinien gebildeten Wahrheitskommission orientiert hatte und wo im Vorfeld bereits kleinere Untersuchungskommissionen Informationen gesammelt hatten, gilt als Erfolg. Dazu geführt hätten die Akzeptanz und Partizipation der Gesellschaft, ein funktionierender Rechtsrahmen auf Grundlage einer neuen Verfassung und Transparenz hinsichtlich aller Ergebnisse. In Burundi sei die Kommission über den Entwurf eines Konzeptes nicht hinausgekommen, da es letztlich am politischen Willen gefehlt habe und die Justiz in diesem Land zu schwach sei. Die Afrikanische Union signalisiere zudem kein ausgeprägtes Interesse an der Strafverfolgung der Menschenrechtsverletzungen. Eine positive Entwicklung dagegen zeige aktuell Gambia. Faktoren dafür seien, dass sich die Zivilgesellschaft an den Kommissionen beteilige, es starke inländische Akteure gäbe und eine hohe Transparenz bezüglich aller Verfahren gewährleistet sei. Auch Hamann ist der Auffassung, dass sich traditionelle Rechtsprechung und Wahrheitskommissionen ergänzen sollten. Das Verhältnis müsse dem Einzelfall entsprechend strukturiert und definiert werden.

Dr. Friederike Mieth – Sozialanthropologin, selbständige Wissenschaftlerin und Beraterin für Transnationale Justiz, Deutschland.

Auch Mieth sprach sich zu Beginn ihres Beitrags „Was macht die Mechanismen der Übergangsjustiz sinnvoll?“ gegen eine dezidierte Trennung der sich vermeintlich widersprechenden Ansätze von Wahrheitskommissionen und Strafprozessen aus. Sie betonte, dass die Modelle Wahrheitskommission und traditionelle Strafjustiz nicht als geschlossene und unvereinbare Systeme verstanden werden dürften. Eine Kombination aus Maßnahmen beider Modelle könne konstruktiv sein. Von Relevanz sei hierbei die Bestimmung des Ziels, auf welches eine Gesellschaft nach gewaltsamen Konflikten hinarbeite. Der Erfolg übergangsjustizieller Instrumente hinge von verschiedenen Faktoren ab. Es habe sich gezeigt, dass die Umstände unter denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, großen Einfluss auf die Auswirkung des jeweils ausgewählten Instruments hätten. Zu bedenken sei zudem, dass ein Mittel, z.B. Wiedergutmachung, einen Bedeutungswandel erfahre und die betreffende Gesellschaft den einstmals positiven Effekt im Verlauf der Zeit anders oder gegenteilig bewerte. Ein weiterer Aspekt seien die ganz unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse innerhalb einer Gesellschaft, die eine postkonfliktäre Phase erlebten.

Prof. Dr. Gabriel Pérez Barberá – Professor für Strafrecht an der Universität Córdoba und an der Universität Torcuato Di Tella, Buenos Aires, Anwalt der Bundesstaatsanwaltschaft, Argentinien.

Pérez Barberá näherte sich in „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit: Strafverfahren oder Wahrheitskommissionen“ der Frage, unter welchen Umständen faktische Wahrheit und Gerechtigkeit nach autoritärer Herrschaft hergestellt werden könne. Er vergleicht dabei die in Wahrheitskommissionen und Strafverfahren angewandten Methoden. Beide hätten als zentrales Anliegen, die Wahrheit als historische Begebenheiten und Vorgänge zu ermitteln. Die einen mit dem Ziel, die Gesellschaft zu versöhnen, die anderen, um a priori eine gerechtfertigte Strafe verhängen zu können. Der wesentliche Unterschied sei dass in Strafverfahren, Beweise aus unterschiedlichen Quellen erbracht werden müssten und dass Aussagen und Darstellungen verschiedener an den Prozessen beteiligter Gruppen und Akteure nach strengen Regularien überprüft würden. Seiner Auffassung seien die Rahmenbedingungen von Wahrheitskommissionen gegenüber Strafverfahren nicht besser geeignet, um Wahrheit zu schaffen. Für Argentinien seien traditionelle Strafprozesse der richtige Weg zur Aufarbeitung der Vergangenheit gewesen.

Alberto Yepes Palacio – Koordinator der Informationsstelle für Menschenrechte und humanitäres Recht, Koordination Kolumbien – Europa – Vereinigte Staaten – CCEEU, Kolumbien.

Yepes Palacio erläuterte, dass sich mit dem Friedensabkommen in Kolumbien die Regierung und die Guerilla der FARC-EP neben den Sozialreformen auf ein umfassendes System von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholungsgarantien geeinigt hätten, in dem alle Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das humanitäre Völkerrecht in drei Institutionen zur Verantwortung gezogen werden: in der Kommission zur Aufklärung der Wahrheit (CEV), in der Einheit für die Suche nach Verschwundenen (UBPD) und der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP). Einflussreiche politische und wirtschaftliche Sektoren, die mit schweren Verbrechen der Vergangenheit in Verbindung stehen, mobilisierten jedoch die Bevölkerung, in einer Volksbefragung gegen das Friedensabkommen zu stimmen. Danach gewannen diese Kreise die Wahlen, wodurch sie an die Regierung kamen, die Umsetzung des Abkommens verhinderten und versuchten, die vormalige Kriegsstrategie wieder einzuführen. Dies bedeutet, dass die Täter der Vergangenheit diejenigen sind, die heute an der Regierung sind, weshalb die Rechenschaftspflicht vor der Wahrheitskommission und der JEP auf Mitglieder der Guerilla und einige mittlere Kommandanten der Streitkräfte beschränkt sei. Aus diesem Grund würden sowohl die CEV als auch die JEP nur begrenzt wirksam sein. Es bestehe die Forderung, dass die Strafprozesse von der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die für Staats- und Wirtschaftskriminalität zuständig ist, durchgeführt werden. Aber angesichts der mangelnden Bereitschaft, die ordentliche Justiz im Rahmen des Abkommens anzuwenden, sollte gefordert werden, die Anwendung internationaler Rechtsinstrumente (sowohl interamerikanischer als auch internationaler) und die Zusammenarbeit mit anderen Staaten bei der Schaffung von Mechanismen der universellen Gerichtsbarkeit zur Verhinderung der Straflosigkeit für die Hauptverantwortlichen dieser staatlichen Verbrechen auszuweiten.

Zusammenfassung der Ergebnisse der Panels und Diskussion

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