5. SYMPOSIUM
DER ELISABETH-KÄSEMANN-STIFTUNG, KATHOLISCHE UNIVERSITÄT
EICHSTÄTT-INGOLSTADT JUNI 2022

Colonia Dignidad – eine deutsch-chilenische Geschichte im Kontext von Wissenschaft, juristischer Aufarbeitung und öffentlicher Inszenierung

Das Zentralinstitut für Lateinamerikastudien (ZILAS) und die Elisabeth-Käsemann-Stiftung veranstalteten vom 22. bis zum 24. Juni 2022 ein Symposium an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit dem Titel „Colonia Dignidad – eine deutsch-chilenische Geschichte im Kontext von Wissenschaft, juristischer Aufarbeitung und öffentlicher Inszenierung“.

Die „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ (Wohltätigkeits- und Bildungsgesellschaft der Würde) wurde 1961 von dem deutschen Sektenführer Paul Schäfer und seinen Anhängern gegründet. Die auch Colonia Dignidad genannte Organisation inszenierte und repräsentierte sich nach außen als eine arbeits- und sozialorientierte Gemeinschaft, die vermeintlich tief in urchristlichen Werten und Idealen verwurzelt war. In Wirklichkeit war sie jedoch ein Instrument, mit dem jahrzehntelang Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden.

Die von der DFG geförderte internationale Fachtagung verfolgte das Ziel, die in den letzten Jahren von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorangetriebenen Forschungen zu bündeln, den transnationalen Dialog zwischen den Forschenden zu fördern und dieses wichtige Thema sowohl in der chilenischen, der bundesdeutschen wie in der internationalen Geschichte besser zu verorten.

WILLKOMMEN

Der VIZEPRÄSIDENT DER KATHOLISCHEN UNIVERSITÄT EICHSTÄTT-INGOLSTADT PROF. DR. KLAUS STÜWE hieß die Gäste herzlich willkommen.

DR. DOROTHEE WEITBRECHT GESCHÄFTSFÜHRERIN DER ELISABETH-KÄSEMANN-STIFTUNG, STUTTGART

Die Geschäftsführerin der Elisabeth-Käsemann-Stiftung hob in ihren Einführungsworten hervor, dass sich im Rahmen der Symposien der Elisabeth-Käsemann-Stiftung das 5. Symposium erstmals einem explizit bilateralen Thema im Bereich der Auseinandersetzung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit widmen würde. Das Symposium mit profilierten deutschen und chilenischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern würde neue Perspektiven für eine interdisziplinäre und interkulturelle Zusammenarbeit eröffnen. Weitbrecht erinnerte an die Bedeutung der Zusammenarbeit der chilenischen und deutschen Solidaritätsbewegung, die in den 1970er Jahren dazu beitrug, dass die Diktatur Augusto Pinochets von der internationalen Staatengemeinschaft isoliert wurde. Obwohl Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur trotz der internationalen Proteste weiterhin stattfanden, erreichten die Solidaritätsinitiativen, dass diese öffentlich wurden und damit langfristig gesehen die Entwicklung einer Menschenrechtspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse erhielt.

FRANCISCO ULLOA CHARGÈ D’AFFAIRES a.i. der Botschaft der Republik von Chile in Deutschland gab in seinem Grußwort einen Überblick über die deutsch-chilenische Kooperation im Zusammenhang mit der Colonia Dignidad.

PROF. DR. BEATE RUDOLF DIREKTORIN DES DEUTSCHEN INSTITUTS FÜR MENSCHENRECHTE, widmete ihren Eröffnungsvortrag dem Titel „Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad aus Perspektive der Menschenrechte“.

PANEL I

PROF. DR. THOMAS FISCHER DIREKTOR DES ZENTRALINSTITUTS FÜR LATEINAMERIKASTUDIEN (ZILAS) und KURATORIUMSVORSITZENDER DER ELISABETH-KÄSEMANN-STIFTUNG eröffnete das erste Panel, „State of the Art: Die Entwicklung der politischen und historischen Debatte um die Colonia Dignidad, ihre Bedeutung und Wahrnehmung, ihre Wirkung und ihr Vermächtnis in Deutschland und Chile nach 1990″.

ENRICO BRANDT AUSWÄRTIGES AMT, LEITER DES REFERATS FÜR REGIONALPOLTIK FÜR LATEINAMERIKA UND DIE KARIBIK & BILATERALE BEZIEHUNGEN MIT DEN LÄNDERN CONO SUR UND BRASILIEN

Das Auswärtige Amt, das der Gemeinsamen Kommission von Deutschem Bundestag und Bundesregierung zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad angehört, wurde auf dem Symposium von Enrico Brandt vertreten. Er nannte rückblickend die Rede des damaligen Bundesaußenministers Steinmeier im Jahr 2016 als ‚turning point‘ in der Bewertung der historischen Rolle der deutschen Diplomatie in Bezug auf die Colonia Dignidad. Aus dieser Neubewertung resultiert zwar keine juristische, aber eine moralische Verpflichtung. Seither räumt das Auswärtige Amt dem Themenkomplex neue Priorität ein und arbeitet in unterschiedlichen Initiativen an der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht für das Auswärtige Amt die Umsetzung des in der Gemeinsamen Kommission erarbeiteten Hilfskonzepts für die Opfer der Colonia Dignidad. Darüber hinaus finanziert es unter anderem das Projekt der Freien Universität Berlin „Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv“ und engagiert sich gemeinsam mit der chilenischen Regierung in der Deutsch-Chilenischen Gemischten Kommission für die Aufarbeitung der Colonia Dignidad und Integration der Opfer in die Gesellschaft. Die vielfältigen Ansätze der Initiativen würden weit in die Zukunft reichen. Angesichts der Kritik an der sich hinziehenden Umsetzung des Hilfskonzepts hob Brandt dessen Neuartigkeit hervor. Ziel bleibe, den Betroffenen schnell und unbürokratisch zu helfen.

DR. PHILIPP KANDLER UND DOROTHEE WEIN HISTORIKER UND ANTHROPOLOGIN, FREIE UNIVERSITÄT BERLIN

Philipp Kandler und Dorothee Wein stellten in ihrem Beitrag das an der Freien Universität Berlin unter Leitung von Prof. Dr. Stefan Rinke durchgeführte Projekt „Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History Archiv“ vor. Insgesamt wurden 64 biografische Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der Colonia Dignidad, ehemaligen politischen Gefangenen, Angehörigen von verschwundenen Häftlingen, Chilenen, die in ihrer Jugend von Paul Schäfer sexuell missbraucht wurden, und anderen Personen, die von den Ereignissen in der Colonia Dignidad betroffen und daran beteiligt waren, geführt. Die Interviews in deutscher oder spanischer Sprache wurden transkribiert, übersetzt und wissenschaftlich aufbereitet. So entstand ein facettenreiches Interview-Archiv aus unterschiedlichen Perspektiven, das über eine Online-Plattform mit geschütztem Zugang die wissenschaftliche Forschung zum Thema fördern soll und für Zwecke der politischen Bildung gedacht ist. Ziel des Interviewprojekts war es nicht nur, Berichte über die Verbrechen in der ehemaligen Colonia Dignidad zu sammeln. Vielmehr zielte das Projekt auf eine adäquate Darstellung der sehr unterschiedlichen Gruppen ab, die mit der Colonia Dignidad in Zusammenhang standen und noch immer stehen. Das Projekt der Freien Universität Berlin wurde zwischen 2019 und 2022 vom Auswärtigen Amt auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

ANDREAS SCHÜLLER LEITER DES PROGRAMMS VÖLKERSTRAFTATEN UND RECHTLICHE VERANTWORTUNG IM EUROPEAN CENTER FOR CONSTITUTIONAL AND HUMAN RIGHTS E.V. (ECCHR), BERLIN

Das Versagen der deutschen Justiz bei der Strafverfolgung der Täter der Colonia Dignidad stand im Mittelpunkt von Andreas Schüllers Vortrag. Am Beispiel Hartmut Hopps, der in Chile für seine in der Colonia Dignidad begangenen Taten verurteilt worden war und dem 2011 die Flucht aus Chile nach Deutschland gelang, beschrieb er die Unzulänglichkeiten des deutschen Strafrechts gegenüber systemischer Folter und gewaltsamem Verschwindenlassen. Die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen würden vom Strafgesetzbuch nicht erfasst oder der Verjährungsfrist unterliegen. Darüber hinaus hätten weitere Faktoren die Einstellung mehrerer Ermittlungsverfahren bedingt wie unterlassene Zeugenvernehmungen, unzureichende Kenntnisse über das System Colonia Dignidad, die einer effektiven Zeugenbefragung im Weg stünden, und mangelndes Verständnis der Struktur der Gewaltherrschaft in der Sekte, die die individuelle Verantwortung von Tätern falsch beurteile. Das letzte in diesem Fall noch anhängige Verfahren in Deutschland sei die Beschwerde, die beim Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gegen die Staatsanwaltschaft in Krefeld eingelegt wurde.

PROF. DR. ELIZABETH LIRA KORNFELD PSYCHOLOGIN, UNIVERSIDAD ALBERTO HURTADO, SANTIAGO DE CHILE, MITGLIED IN DER VON CHILE UND DEUTSCHLAND BERUFENEN BILATERALEN EXPERTENKOMMISSION ZUR SCHAFFUNG EINES DOKUMENTATIONS- UND GEDENKSTÄTTENKONZEPTS ZUR COLONIA DIGNIDAD

Elizabeth Lira stellte Überlegungen zu möglichen Formen der Wiedergutmachung und der Entschädigung der Opfer der ehemaligen Colonia Dignidad in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Von entscheidender Bedeutung für die Opfer hält Lira die Verurteilung der Täter. Zwar wurden in mehreren Gerichtsverfahren die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen an Kindern und Erwachsenen sowie die Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Zudem hat der chilenische Staat die Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens und der Folter anerkannt. Andererseits war es nur unter großen Schwierigkeiten möglich, die Kinder und Erwachsenen, die Opfer von Machtmissbrauch und sexueller Gewalt wurden, sichtbar zu machen. Sie alle haben aus unterschiedlichen Gründen unter extremen Formen der Entmenschlichung gelitten. Lira thematisierte insbesondere die individuellen und kollektiven psychologischen, medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Gewalt. Die Anerkennung der Leiden der Opfer spiegelt sich in der Notwendigkeit wider, Rahmenbedingungen für die Erinnerung beispielsweise über Gedenkstätten und Garantien für ein Nichtwiederholen zu schaffen. In diesen Punkten gibt es weiterhin Handlungsbedarf.

DR. ELKE GRYGLEWSKI GESCHÄFTSFÜHREREIN DER STIFTUNG NIEDERSÄCHSISCHE GEDENKSTÄTTEN UND LEITERIN DER GEDENKSTÄTTE BERGEN-BELSEN, MITGLIED IN DER VON CHILE UND DEUTSCHLAND BERUFENEN BILATERALEN EXPERTENKOMMISSION ZUR SCHAFFUNG EINES DOKUMENTATIONS- UND GEDENKSTÄTTENKONZEPTS ZUR COLONIA DIGNIDAD

Elke Gryglewski wies auf die Komplexität des Begriffs Opfer und des Diskurses innerhalb der Opfergruppen der Colonia Dignidad hin. Vor dem Hintergrund der heterogenen politischen, kulturellen und sozialen Herkunft der Opfer bestehe eine große Bandbreite des Erlittenen, deren Folge verschiedene Narrative in Bezug auf die Vergangenheit seien. Mangelndes Vertrauen, rassistische Vorurteile, das Fehlen einer soliden Informationsbasis und einer gemeinsamen Kommunikationsstruktur verschärften die subjektiv empfundenen Gegensätze. Die Erinnerung der Vergangenheit, die Wahrnehmung der Gegenwart, die Beziehungen zwischen den Opfergruppen und schließlich die individuellen Vorstellungen von einem „angemessenen Umgang mit der Geschichte der Colonia Dignidad“ beeinflussten maßgeblich die Entwicklungsprozesse der Vergangenheitsbearbeitung.

Zugleich böten die multiplen Perspektiven im Umgang mit der Colonia Dignidad aber auch die Chance einer gemeinsamen, von kultureller Toleranz und Vielfalt geprägten Initiative. Im Rahmen der Expertenkommission hätten seit 2014 bereits zahlreiche Treffen in der ehemaligen Colonia Dignidad, der heutigen Villa Baviera, organisiert werden können. Gryglewski bewertete die Entwicklung dieser Initiative insgesamt sehr positiv und erklärte, sie gehe davon aus, dass in wenigen Jahren auf Grundlage eines gemeinsamen Konzepts auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad ein Dokumentationszentrums und eine Gedenkstätte errichtet würden.

PROF. DR. JENS-CHRISTIAN WAGNER DIREKTOR DER STIFTUNG GEDENKSTÄTTEN BUCHENWALD UND MITTELBAU-DORA, MITGLIED IN DER VON CHILE UND DEUTSCHLAND BERUFENEN BILATERALEN EXPERTENKOMMISSION ZUR SCHAFFUNG EINES DOKUMENTATIONS- UND GEDENKSTÄTTENKONZEPTS ZUR COLONIA DIGNIDAD

In seinem Rückblick auf die schwierige Entstehungsgeschichte deutscher Gedenkstätten an nationalsozialistischen Tatorten hob Wagner die tragende Rolle der Zivilbevölkerung bei der Gründung von Gedenkstätten und Lernorten hervor. Der deutsche Staat begann erst Anfang der 1990er, den Erhalt der historischen Stätten in Verbindung mit einem bildungspolitischen Auftrag und der Bereitstellung eines Trauer- und Gedenkortes zu unterstützen. Der wachsende zeitliche Abstand zu den historischen Ereignissen und die Übernahme der Gedenkstätten aus der DDR-Verwaltung nach der Wende führten zu der neuen staatlichen Zuständigkeit. Aufgrund der Erfahrungen mit NS-Tatorten hält Wagner die Schaffung einer Gedenkstätte am historischen Ort für ein zentrales Ziel, um eine konstruktive gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad zu erreichen. Der neu gestaltete Ort müsse verschiedenen Ansprüchen gerecht werden, er sei Trauer- und Erinnerungsort, Bildungsraum und zugleich Tatort im Kontext juristischer Beweisführung. Wie Gryglewski nannte auch Wagner den Umgang mit den äußerst heterogenen Opfergruppen eine der zentralen Herausforderungen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad. Forschungsdesiderate bildeten die Zusammenarbeit der deutschen Sekte mit der Pinochet Diktatur und die Verbrechen an den chilenischen Kindern, Frauen und Männern, durch deren Proteste und öffentliche Initiativen die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen erst öffentlich wurden.

DR. JAN STEHLE POLITIKWISSENSCHAFTLER, FREIE UNIVERSITÄT BERLIN/ FORSCHUNGS- UND DOKUMENTATIONSZENTRUM CHILE-LATEINAMERIKA, BERLIN

Jan Stehle ging in seinem Beitrag vor allem auf die Inhalte seiner kürzlich veröffentlichten Dissertation mit dem Titel „Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020″ ein. Stehle unterscheidet im Hinblick auf die von/in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen zwischen internen – gegen Mitglieder der Kolonie, um die Autorität Schäfers zu erhalten – und externen – gegen Personen und Instanzen außerhalb der Kolonie –, sowie primären – Sexualstraftaten Schäfers – und sekundären Straftaten – begangen von der „Colonia Dignidad“ als System. Die Gruppe der Opfer kann nach Stehle ebenfalls in Untergruppen aufgeteilt werden: Mitglieder der Kolonie, hunderte politische Gefangene der chilenischen Militärdiktatur, Bauern, denen das Land der heutigen Villa Baviera vorher gehört hat, sowie chilenische Kinder aus dem Umland, die systematisch in die Kolonie gebracht wurden und dort Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Trotz zahlreicher Verbrechen sitzt aktuell nur ein Täter im Gefängnis. Sowohl Chile als auch Deutschland gingen sowohl auf Ebene der Justiz als auch der Politik unzureichend, bzw. zu langsam mit der Aufarbeitung der Verbrechen um. Stehle kritisierte, dass immer noch viele Akten und Beweismittel unter Verschluss und akademischen Forschungen nicht zur Verfügung stünden. Solange sich dies nicht ändere, werde es laut Jan Stehle immer wieder zu Verzerrungen kommen – zu Lasten der Rechte und Bedürfnisse der Opfer.

PANEL II

PROF. DR. MIRIAM LAY-BRANDNER DIREKTORIN DES ZENTRALINSTITUTS FÜR LATEINAMERIKASTUDIEN (ZILAS), eröffnete das zweite Panel „Die Colonia Dignidad in den Medien und ihre öffentliche Wahrnehmung in Deutschland und Chile“.

LUIS NARVÁEZ ALMENDRAS JOURNALIST UND FORSCHER, BUENOS AIRES

Luis Narváez betonte in seinem Vortrag die Relevanz der journalistischen Arbeit zum Fall Colonia Dignidad. Er versteht investigativen Journalismus als Chance, sowohl historische Kontexte zu rekonstruieren als auch die Ergebnisse der Forschungen in einem öffentlichen Rahmen zu präsentieren. Narváez stellte unterschiedliche Datensammlungen vor, wobei die größte und informationsreichste Sammlung die aus der Colonia Dignidad selbst ist: Seit 1974 wurden Karteikarten mit Informationen zu drei unterschiedlichen Gruppen angelegt. Zum einen wurden Informationen zu potenziellen „Gefährdern“ der Kolonie gesammelt wie Angehörige linker Parteien und Gruppierungen, zum anderen auch Informationen zu Sympathisanten und möglichen Verbündeten, d.h. Angehörige rechter Parteien, Offiziere, usw. sowie Beweise für mögliche Erpressungen wie sexuelle Verhaltensweisen, Schulden und Betrug. Zusammengetragen wurden u.a. persönliche Daten, Aufenthaltsorte und Beschreibungen spezifischer Situationen, als auch Fotografien. Auch wenn es immer noch Quellenbestände gibt, die noch nicht ausgewertet wurden, konnten bisherige Forschungen zeigen, welche einflussreichen Persönlichkeiten aus Deutschland und Chile mit der Colonia Dignidad zusammengearbeitet hätten, u.a. der damalige chilenische Innenminister.

MARÍA LUISA ORTÍZ ROJAS LEITERIN SAMMLUNGEN UND FORSCHUNG, MUSEO DE LA MEMORIA Y DE LOS DERECHOS HUMANOS, SANTIAGO DE CHILE

Maßnahmen und Initiativen gegen das Schweigen sowie Hindernisse und Hürden, die das Erinnern an die Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur erschwerten, standen im Vordergrund des Beitrags von María Luisa Ortíz. Sie stellte materielle und immaterielle Quellen vor, die Zeugnisse für die Gräueltaten sind, die während des Militärregimes in Chile verübt wurden und problematisierte, dass wichtige Beweismittel noch immer verschwinden oder unzugänglich sind. Insbesondere die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftlichen Initiativen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren hob Ortíz als Meilensteine gegen das Vergessen der letzten zwanzig Jahre hervor. In Bezug auf die ehemalige Colonia Dignidad sieht sie zwei Herausforderungen: zum einen die Notwendigkeit eines Verzeichnisses aller Bestände, Initiativen und kultureller Produktionen, um diese sichtbarer zu machen und den Zugang zu wichtigen Zeugnissen zu erleichtern. Zum anderen sieht Ortíz die Notwendigkeit, Menschenrechtsarchive und Sammlungen in Zusammenhang mit der Colonia Dignidad stärker in Bildungscurricula zu integrieren. Darüber hinaus erkennt Ortiz ein geschichtswissenschaftliches Desiderat hinsichtlich des Systems und der Struktur der Organisation und der Differenzierung zwischen der ehemaligen Colonia Dignidad und der heutigen Villa Baviera . Die wohlüberlegte Platzierung der Archive und Quellenbestände im öffentlichen Raum könnte letztlich einen zentralen Beitrag zur Demokratieförderung leisten.

PANEL III

DR. ANDRÉS JIMÉNEZ ÁNGEL eröffnete das Panel „Ambivalente Wechselbeziehungen und Verflechtungsambiguität zwischen Deutschland und Chile während des Kalten Krieges“.

YVONNE BLOMANN HISTORIKERIN, UNIVERSITÄT BONN

Mit ihrem Vortrag: „Bonn in der Welt: Die Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg. Ein Überblick“ stellte Yvonne Blomann den weltpolitischen Kontext zur deutschen auswärtigen Politik während der Existenz der Colonia Dignidad in Chile her. Sie erläuterte, wie die jeweiligen Bonner Regierungen auf die sich verändernde internationale Machtkonstellation nach 1945 reagierten, sowie außenpolitische Handlungsspielräume interpretierten und nutzen. Dem Mangel an staatlicher Souveränität in der Sicherheits- und Außenpolitik versuchten die bundesdeutschen Regierungen zunächst mit der Integration in westliche Bündnisse und mit der Orientierung an der US-amerikanischen Außenpolitik zu begegnen. Im Zeichen der Entspannung zwischen West- und Ostblock und einer phasenweisen Schwächung der politischen Führungsrolle der USA begann sich die Bindung der Bundesrepublik an die USA in den 1970er und 1980er zu lockern. In ihrer neuen Position als „Mittelmacht“ entwickelte die Bundesrepublik wachsendendes Selbstbewusstsein mit einer eigenständigen multilateralen Außenpolitik, deren Primat in der Stärkung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen lag.

PROF. DR. HOLGER M. MEDING HISTORIKER, UNIVERSITÄT ZU KÖLN

Meding nahm in seinen Ausführungen die wirtschaftlichen, vor allem aber die politischen Beziehungen zwischen Chile und der Bundesrepublik in den Blick. In enger Abstimmung mit den USA wurde die BRD nach 1945 im Rahmen bilateraler Initiativen zunächst zu einem der wichtigsten Handelspartner Chiles und Hauptempfänger bundesdeutscher Entwicklungshilfe. Auf die innenpolitische Entwicklung in Chile versuchten deutsche politische Stiftungen Einfluss zu nehmen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung zählten zu politischen Akteure in Chile, die konservative Parteien und Gruppierungen unterstützten. Beide Organisationen sympathisierten nach dem Putsch 1973 mit der chilenischen Diktatur und besaßen Kontakte in die Colonia Dignidad. Die bundesdeutsche Regierung hingegen distanzierte sich in abgewogenem Maße offiziell von der Diktatur. Aber nur um zugleich mit der so genannten „Stillen Diplomatie“ das Signal auszusenden, die von der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen würden keine ernst zu nehmenden Sanktionen nach sich ziehen. Besonders intensiv betätigten sich – sowohl vor als auch nach dem Putsch – der chilenische und der deutsche Geheimdienst im jeweils anderen Land. Zwei geheimdienstliche Spezialoperationen – “ Rubikon“ und „Minerva“ – lieferten dem Bundesnachrichtendienst und der amerikanische „Central Intelligence Agency“ Informationen über Absichten und Aktivitäten der lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Meding zitierte den BND, demzufolge die Colonia Dignidad in den Aufzeichnungen der „Operation Rubikon“ jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielte.

HOLLE MEDING HISTORIKERIN, FREIE UNIVERSITÄT BERLIN

In ihrem Vortrag zeichnete Holle Meding die Anfänge der 1956 vom Laienprediger Paul Schäfer in Siegburg gegründeten Privaten Socialen Mission nach, von Schäfers früher Jugendarbeit über die Gründung der Gemeinschaft bis hin zur späteren Auswanderung nach Chile. Diese von Meding rekonstruierte Vorgeschichte der Colonia Dignidad fußt auf zahlreichen Quellenrecherchen in regionalen Archiven, lokalen Zeitungsberichten und einigen Zeitzeugeninterviews. Sie kommt zu dem Schluss, dass Schäfer in dieser Zeit nicht den uneingeschränkten religiösen Mittepunkt der Gruppierung darstellte, sondern dass auch Hugo Baar, der den Gronauer Zweig einbrachte, eine bedeutende Führungsrolle besaß. Des Weiteren vollzieht Meding das zögerliche Agieren der lokalen Aufsichtsbehörden nach, denen durchaus die Schattenseiten der Privaten Socialen Mission – wie Sektierertum, Isolation und fundamentalistische Glaubensregeln – bekannt waren. Insgesamt sah man allerdings in dem Jugendheim der Privaten Socialen Mission, das sich um Kinder und Jugendliche aus ärmlichen oder instabilen Familienverhältnissen kümmerte, einen Gewinn für die Region. Bei festgestellten Verstößen gegen bestehende Vorschriften half man, diese abzustellen. Als das Amtsgericht Siegburg schließlich im Februar 1961 einen Haftbefehl gegen Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen erließ, befand sich dieser bereits in Chile. Die in Siegburg verbliebene Vereinsleitung belog die Behörden und hintertrieb die Strafverfolgung durch Täuschung und Verschleierung. Weder die Kriminalpolizei noch das Kreisjugendamt eruierten die möglichen Missbrauchsfälle im Jugendheim besonders gründlich. Der Siegburger Verein blieb noch jahrzehntelang tätig und unterstützte die Colonia Dignidad in Chile.

PROF. DR. ISABEL TORRES DUJISIN HISTORIKERIN, UNIVERSIDAD DE CHILE, SANTIAGO DE CHILE

Die Zeithistorikerin Isabel Torres widmete ihren Vortrag den Jahren zwischen 1961, dem Gründungsjahr der Colonia Dignidad, und 1973, dem Jahr des Militärputsches in Chile. Ihr Interesse galt den Verbindungen zwischen der deutschen Siedlergemeinschaft und der chilenischen Rechten. Torres stellte die These auf, dass in diesem Zeitraum die Grundlagen für die künftigen Unterstützungsnetze und politisch-wirtschaftlichen Verbindungen gelegt wurden. Obwohl sich in den 1960er Jahren die politischen Verbindungen zu rechten und ultrarechten Sektoren bildeten, die später zwischen der Führungsebene der Colonia Dignidad und dem Sicherheitsapparat der Diktatur gefestigt wurden, handelt es sich um eine in der Forschung bislang wenig untersuchte Zeit. Mit Bezügen zu Hannah Arendt und Henry Roussos Konzept des Vichy-Syndroms ging Torres der Frage nach, wie eine Siedlung wie die Colonia Dignidad möglich gewesen sein und über Jahrzehnte Bestand haben konnte. Die Angst vor dem Kommunismus, die einige Siedler der Colonia Dignidad im Europa der Nachkriegszeit bereits bewegt hatte, sich Paul Schäfer anzuschließen, schürte in den 1960er und frühen 1970er Jahren auch die Angst vor Salvador Allende und seiner Partei, der Unidad Popular.

THOMAS KRÜGER PRÄSIDENT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG/BPB, BONN

Krüger näherte sich dem Thema Colonia Dignidad aus der Perspektive zweier verschiedener Ansätze, deren Ziele unter anderem in Abhängigkeit vom zeitlichen Abstand zum historischen Geschehen jeweils dringlicher erscheinen mögen: der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ und der „politisch-historischen Bildung“. Bei Aufarbeitung geht es primär darum, Unrecht und die dafür Verantwortlichen zu benennen sowie die Betroffenen und Opfer ins Recht zu setzen. Sie betont die Relevanz von Vergangenheit für die Gegenwart, allerdings aufgrund von Prämissen, die in ihrem Gegenwartsbezug eher nicht problematisiert werden, und geschichtspolitisch motiviert sind. Politisch-historische Bildung interessiert sich insbesondere für das „Grau“ in einer historischen Situation und analysiert z.B. die Verführungskraft von Diktaturen, um Entwicklungen im Jetzt zu erkennen. Von entscheidender Bedeutung ist ihre Überparteilichkeit, um einer erinnerungspolitischen Instrumentalisierung zu widerstehen. In diesem Sinne ist ein maßgebliches Kriterium von politisch-historischer Bildung die Frage nach Mehrdeutigkeiten und ein demokratischer Umgang mit Vergangenheit. Mit einem Zitat von Chantal Mouffe: „Konsens ist das Ende der Politik“, verband Krüger die Forderung, Multiperspektivität aktiv zu suchen – beispielsweise über Fragestellungen aus dem Bereich der Geschlechterforschung, die neue Opfergruppen der Colonia Dignidad definieren können. Er betonte, dass ein produktiver Umgang mit Konflikten, die aus Multiperspektivität entstehen, der Stärkung des sozialen Zusammenhalts dient.

PANEL IV

PROF. DR. ROLAND SCHMIDT-RIESE eröffnete Panel IV, „Die Colonia Dignidad während der chilenischen Diktatur und ihre Rolle innerhalb des staatlich gelenkten Unterdrückungssystems“.

EVELYN HEVIA JORDÁN PSYCHOLOGIN, FREIE UNIVERSITÄT BERLIN

Evelyn Hevia Jordán stellte in ihrem Beitrag ihre noch laufenden Arbeiten an ihrer Dissertation über das Krankenhaus El Lavadero innerhalb der Colonia Dignidad vor. Ihre These ist, dass man die Geschichte der Colonia Dignidad, das Wegschauen der Politik und der Gesellschaft sowie das Schweigen über die in der Kolonie begangenen Menschenrechtsverletzungen am Beispiel des Krankenhauses – dem Zentrum der Colonia Dignidad – erschließen und besser einordnen kann. Das Krankenhaus nahm also eine tragende Rolle innerhalb der Siedlergemeinschaft ein. Der konzeptuelle Zugang, das Krankenhaus in den Mittelpunkt der historischen Analyse zu stellen, wird methodisch durch das Studium zeitgenössischer Quellen sowie durch Zeitzeugeninterviews bereichert.

CHRISTIAN BERGMANN JOURNALIST UND FORSCHER, LEIPZIG

Der Journalist Christian Bergmann fragte in seinem Vortrag nach den wirtschaftlichen Verflechtungen der Colonia Dignidad. Aus einer akteurszentrierten Perspektive ging er insbesondere auf die Rollen von Erich Strätling und Gerhard Mertins ein. Strätling war in den 1970er Jahren Botschafter der Bundesrepublik in Chile gewesen und pflegte enge Kontakte zur Führungsriege der Colonia. Gerhard Mertins hatte als wohl bekanntester Waffenexporteur der BRD diese Kontakte zur Colonia Dignidad vor allem auf wirtschaftlicher Ebene gestärkt. Hingegen hatte Norbert Blüm, den Bergmann ebenfalls erwähnte, als Teil des „linken Flügels“ der CDU immer wieder auf die Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Colonia Dignidad aufmerksam gemacht und erntete dafür insbesondere von CSU-Politiker Strauß harsche Kritik, der für die Siedlergemeinschaft immer wieder lobende Worte fand. Bergmanns Beitrag zeigte vor allem eins: Dass die Bedeutung von Zeitzeugeninterviews insbesondere dort zentral ist, wo Dokumente aus Archiven weiterhin unter Verschluss gehalten werden oder wo Beweismittel bereits vernichtet wurden bzw. verschwunden sind. Gleichwohl ist Vorsicht geboten, wenn Aussagen von Zeitzeugen sich durch die Analyse von Textquellen nur schwer bestätigen oder ergänzen lassen. Hinzu kommt, dass viele Zeitzeugen, die als Erwachsene mit der Colonia Dignidad in Kontakt standen, bereits verstorben sind.

PANEL V

Die Einführung zu Panel V „Der Umgang mit Erfahrungen physischer und psychischer Gewalt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika“ und Panel VI „Transitional Justice als internationale und bilaterale Herausforderung“ gab DR. JOCHEN KLEINSCHMIDT.

PROF. DR. SABINE KURTENBACH POLITIKWISSENSCHAFTLERIN, GIGA HAMBURG/ UNIVERSITÄT MARBURG

Im Zentrum des Vortrags von Sabine Kurtenbach standen die langfristigen Folgen von Gewalt als ein vielschichtiges Phänomen, das heute von unterschiedlichen Disziplinen beforscht wird. Die Politikwissenschaftlerin unterschied für den lateinamerikanischen Kontext zwischen unterschiedlichen Kontexten der Gewalt, etwa in autoritären Regimen und Diktaturen, oder aber Kriegen und bewaffneten Konflikten sowie Gewalt durch das organisierte Verbrechen. In einer breiteren Perspektive könnten die Erfahrungen mit der Colonia Dignidad laut Kurtenbach als eine besondere Form eines Parallelstaates jenseits der staatlichen Kontrolle analysiert werden. Während der Diktatur kooperierte die Colonia mit dem chilenischen Staat und beteiligte sich an der Repression von Oppositionellen. Danach widersetzte sie sich der staatlichen Einmischung. Menschenrechtsverletzungen und Gewalt in der Colonia Dignidad standen im Zusammenhang mit der Folterung von Regimegegnern, dem sexuellen Missbrauch von Kindern oder der Zwangsarbeit. Diese Verbrechen fanden mit der Verhaftung von Paul Schäfer zwar ein Ende, aber die meisten von ihnen bleiben noch immer ungesühnt. Auch wenn der Fall Colonia Dignidad in der Friedens- und Konfliktforschung sicherlich als Sonderfall bewertet werden darf, gibt es auch andere Erfahrungen mit deutschen Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika. Kurtenbachs Beitrag endete mit einem Ausblick auf aktuelle Beispiele der deutschen Zusammenarbeit mit repressiven Regimen etwa in der VR China.

PROF. DR. SUSANNE BAUER PSYCHOLOGIN UND MUSIKTHERAPEUTIN, UNIVERSITÄT DER KÜNSTE, BERLIN

In der Colonia Dignidad wurden Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte systematisch gedemütigt, bestraft, psychisch und physisch misshandelt und sexuell missbraucht. Zuvor bestehende Familienstrukturen wurden aufgelöst, Kinder, unbeachtet welchen Alters, von ihren Müttern, Vätern und Geschwistern getrennt und unter der Aufsicht von Gruppentanten großgezogen. Das Aufwachsen und die gesamte Kindheit waren geprägt von Angst, emotionaler Vereinsamung, Misstrauen und irrationaler Gewalterfahrung. Als besonders gravierend muss die psychosexuelle Entwicklung eingestuft werden. Sowohl Mädchen als auch Jungen erlebten, spätestens ab dem siebten Lebensjahr, sexualisierte Gewalt unterschiedlicher Art. All dies verhinderte eine gesunde individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Laut Susanne Bauer können Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie, der psychoanalytischen Traumapsychologie und der systemischen Theorie helfen, sich ein adäquateres Bild vom Ausmaß der zugefügten psychischen Schäden zu machen. Auf Grundlage eigener Befunde resümierte Bauer, dass die meisten der inzwischen erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner der Colonia Dignidad sowohl körperlich als auch seelisch erkrankt waren. Neben Persönlichkeitsmerkmalen wie Abhängigkeitsstrukturen in den Beziehungen und fehlender Mentalisierung, ließen sich eine verzerrte Realitäts-, Selbst- und Fremdwahrnehmung nachweisen sowie Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Viele von ihnen litten unter Angststörungen, Panikattacken, einem niedrigen Selbstwertgefühl oder einer narzisstischen Selbstüberhöhung. Von den Misshandlungen und deren gravierenden Folgen auf die Persönlichkeitsentwicklung waren sowohl die von Deutschland nach Chile überführten und die in der Colonia Dignidad geborenen deutschen Kinder als auch die von den Colonos adoptierten chilenischen Kinder betroffen.

LORENA ALBORNOZ GARRIDO JURISTIN UND SOZIALANTHROPOLOGIN, UNIVERSITÄT BIELEFELD

Lorena Albornoz ging es in ihrem Beitrag um Fragen und Möglichkeiten der Wiedergutmachung für die Opfer der Verbrechen in der Colonia Dignidad. Auch die Ungewissheit über den Verbleib vermisster Personen, die während der Militärdiktatur in die Colonia verschleppt wurden und dann spurlos verschwanden, war Thema des Vortrags von Albornoz. Sie betonte vor allem die Initiativen zivilgesellschaftlicher Akteure sowie vieler Opferangehöriger, die weitere Maßnahmen im Zuge einer raschen Aufklärung dieser Fälle förderten und noch immer fordern. Albornoz selbst plädiert für die Einrichtung einer Wahrheitskommission, deren Hauptaufgabe darin liegen müsste, den Verbleib der noch immer vermissten Personen zu klären. Laut Albornoz erfolgten alle bisherigen Maßnahmen, die der chilenische Staat in Bezug auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer der Diktatur entwickelt hat, auf dem unermüdlichen Kampf der Angehörigen. Speziell im Falle der Colonia Dignidad seien aber zwei Staaten für die Gräueltaten verantwortlich – eine Aufklärung und Aufarbeitung der Verbrechen könne also nur aus einer binationalen Zusammenarbeit zwischen Chile und Deutschland erwachsen.

PROF. DR. CATH COLLINS INSTITUT FÜR TRANSITIONALE JUSTIZ, ULSTER UNIVERSITÄT, NORDIRLAND/ DIREKTORIN DES OBSERVATORIO JUSTICIA TRANSNACIONAL, UNIVERSITÄT DIEGO PORTALES, SANTIAGO DE CHILE

Das Ziel der Übergangsjustiz ist es, einen rechtstaatlichen, befriedenden und demokratischen Umgang mit zurückliegender staatlicher und konfliktärer Gewalt zu ermöglichen. Auf Basis dieses Konzepts ergeben sich aus Sicht von Cath Collins sechs zentrale Themenkomplexe im Zusammenhang mit der Colonia Dignidad . Erstens gehören hierzu Fragen der Dekolonisierung hinsichtlich der enteigneten chilenischen Grundstücke, auf denen die Colonia Dignidad errichtet wurde, zweitens muss der finanzielle Schaden, der den Opfern über Zwangsarbeit und Betrug zugefügt wurde, definiert werden, drittens die problematische Hierarchisierung und Kategorisierung von Opfern und Täterinnen und Tätern aufgelöst werden und viertens die besondere intergenerationelle Struktur der in der Colonia Dignidad verübten Verbrechen, die Erwachsene und Kinder betraf und damit auch verbunden die Kollaboration mit dem Pinochet-Regime und internationaler rechtsextremistischer Netzwerker erforscht werden. Ein fünftes Untersuchungsfeld liegt in der medialen Verarbeitung der Colonia Dignidad und der Verbreitung manipulativer und teilweise verfälschender Interpretationen. Ein Aspekt widmete Collins dem Themenfeld neuer forensischer und digitaler Technologien und der Entdeckung von Archivmaterial in den letzten Jahren. Zwar erschließen sich hier neue Quellen, wenn jedoch schriftliches Quellenmaterial – zumal, wenn es aus der Hand der Täter stammt –, in Ermittlungsverfahren höher bewertet wird als ältere Aussagen von Opfer und Zeitzeugen, befürchtet Collins eine Abwertung und Umschreibung von Ergebnissen der Oral History zugunsten juristisch ermittelter Informationen.

PROF. DR. FRANCISCO BEDECARRATZ SCHOLZ FACHBEREICH RECHTSWISSENSCHAFT, UNIVERSITÄT AUTÓNOMA DE CHILE, SANTIAGO DE CHILE

Bedecarratz Scholz vertiefte und erweiterte den Vortrag von Andreas Schüller zur Strafverfolgung Hartmut Hopps, indem er seinen Fokus auf die juristische Zusammenarbeit zwischen Chile und Deutschland und die Bedeutung der Verfahren für die Übergangsjustiz in Chile richtete. Der Fall Hopp gehört zu einer Reihe anderer Fälle, bei denen die deutsch-chilenische Kooperation im Bereich der Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit scheiterte. Beide Länder gewährten Personen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und in Chile verantwortlich waren und zu denen Auslieferungsersuchen bestanden, Zuflucht und schützten sie vor Strafverfolgung. Es waren nicht nur günstige politische Rahmenbedingungen für die Betroffenen, die dies ermöglichten, sondern auch die Unterschiede in der chilenischen und deutschen Strafgesetzgebung, wie sich vor allem am Beispiel Hopps aufzeigen lässt. Während Hopp in Chile auf Grund der systemischen Verantwortung wegen Beihilfe in Fällen von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch verurteilt wurde, ohne, dass ihm eine unmittelbare Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte, war dieser fehlende Nachweis Anlass für deutsche Gerichte die Verfahren in Deutschland einzustellen. Damit wurde das chilenische Urteil über Hartmut Hopp in Deutschland für ungültig erklärt. Das Scheitern der Verurteilung eines Deutschen, der auf chilenischem Staatsgebiet Menschenrechtsverletzungen beging, bedeutete für die chilenische Übergangsjustiz eine schwere Niederlage und belastet die deutsch-chilenischen Beziehungen. Bedecarratz Scholz bewertet die chilenischen Ermittlungsverfahren im Sinne der Vergangenheitsaufarbeitung und der Bemühung um Wiedergutmachung dennoch als positiv, da sie maßgeblich zur Aufklärung der in der Colonia Dignidad statt gefundenen Verbrechen beitrugen.

FAZIT

Das 5. Symposium der Elisabeth-Käsemann-Stiftung, das zusammen mit dem Zentralinstitut für Lateinamerikastudien (ZILAS) an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ausgerichtet wurde, bot den teilnehmenden Expertinnen und Experten einen breiten interdisziplinären Zugang zum Themenkomplex Colonia Dignidad. Resultierend aus dem multiperspektischen Ansatz ergaben sich zahlreiche Erkenntnisse, die im Plenum diskutiert werden konnten, aber auch neue Fragestellungen und Desiderate. Beispielsweise wurde offenbar, dass bisher noch nicht rekonstruiert wurde, auf welchen Netzwerken aufbauend sich die Organisation über einen sehr langen Zeitraum vor äußeren Eingriffen schützen und ein wirtschaftlich erfolgreiches System etablieren konnte. Auch die Vorgeschichte der Colonia Dignidad in Deutschland liegt zum Teil noch im Dunkeln. Es wurde darüber hinaus die enorme Vielschichtigkeit der Verbrechen und der sie tangierenden politischen und gesellschaftlichen Bereiche in Deutschland und Chile deutlich. In diesem Zusammenhang stellte sich für einige Teilnehmende die Frage, ob die Zuordnung der Colonia Dignidad zum Forschungsfeld Sekten bzw. Glaubensgemeinschaften aufgrund der genannten Komplexität zielführend sei. Auch die Bedeutung der noch immer unzureichenden Strafverfolgung der Verbrechen wurde mehrfach hervorgehoben. Damit verbunden wurde ein verstärkter Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern der Justiz im Rahmen von wissenschaftlichen Formaten angeregt.

In der Abschlussdiskussion, die von Christiane Hoth, KU Eichstätt-Ingolstadt, und Dr. Dorothee Weitbrecht, Elisabeth-Käsemann-Stiftung, moderiert wurde, forderten Teilnehmende nachdrücklich den freien Zugang zu sämtlichen in den Archiven liegenden Dokumenten wie zum Beispiel des Bundesnachrichtendienstes. Aufgabe der Wissenschaften sei es durchaus, als eine Art „Wahrheitskommission“ vergangene Verbrechen zu rekonstruieren und aufzuarbeiten. Zugleich wurden jedoch die Grenzen wissenschaftlichen Arbeitens diskutiert und die Frage aufgeworfen, welche Chancen beispielsweise künstlerische Formate bieten könnten, um das Thema Colonia Dignidad im öffentlichen Raum stärker in den Fokus zu rücken. Auch die Schaffung von Lernorten, neuen pädagogischen Konzepten und frei zugänglichen Informationsforen wurden als zentrale Anliegen in der Abschlussdiskussion formuliert. Kritisch sahen viele der Referentinnen und Referenten die Verarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad in verschiedenen Medienformaten, die teilweise einseitige oder auch falsche Narrative vermittelten.

Besondere Bedeutung kam dem Symposium nicht nur hinsichtlich der umfassenden Kontextualisierung des Themas Colonia Dignidad zu, sondern auch bezüglich des Versuchs einer globalhistorischen Einbettung. Neben ausgewiesenen Expertinnen und Experten konnten dabei Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wertvolle Beiträge zur Diskussion leisten, die neue Impulse für weitere Forschungen geben.

Es bleibt zu konstatieren, dass es den Themenkomplex Colonia Dignidad betreffend weder an Quellen noch an dem Willen mangelt, diese für die Forschung zu erschließen. Auch der verstärkte Bedarf an internationalen Forschungsprojekten wurde von allen Teilnehmenden begrüßt. Das 5. Symposium der Elisabeth-Käsemann-Stiftung schuf eine wichtige Grundlage für einen kontinuierlichen Dialog zwischen verschiedenen Expertinnen und Experten, Forschungsansätzen und Perspektiven auf dem Forschungsgebiet Colonia Dignidad.

Organisation:

Prof. Dr. Thomas Fischer
Dr. Dorothee Weitbrecht
Christiane Hoth de Olano

Bericht:
Dr. Dorothee Weitbrecht
Christiane Hoth de Olano

Von links nach rechts:
Dr. Dorothee Weitbrecht Geschäftsführerin der Elisabeth-Käsemann-Stiftung, Sebastian Lemp Sekretär der Botschaft von Chile in Deutschland, Prof. Dr. Klaus Stüwe Vizepräsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Christiane Hoth Ko-Organisation des Symposiums, Zentralinstitut für Lateinamerika-Studien (ZILAS), Enrico Brandt Auswärtiges Amt, Leiter des Referats für Regionalpolitik für Lateinamerika und die Karibik & Bilaterale Beziehungen mit den Ländern Cono Sur und Brasilien, Prof. Dr. Thomas Fischer Direktor des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien (ZILAS) und Kuratoriumsvorsitzender der Elisabeth-Käsemann-Stiftung.

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